Fragen & Antworten
Was zur Abhöraffäre bei der Luftwaffe bislang bekannt ist
Sie glaubten, unter sich zu sein: Freimütig beraten Luftwaffen-Offiziere über deutsche Marschflugkörper für die Ukraine. In Russland wird ein Mitschnitt veröffentlicht - ein hochbrisanter Vorgang.
Das deutsche Verteidigungsministerium geht davon aus, dass das Gespräch abgehört wurde. "Es ist nach unserer Einschätzung ein Gespräch im Bereich der Luftwaffe abgehört worden. Ob in der aufgezeichneten oder verschriftlichten Variante, die in den sozialen Medien kursieren, Veränderungen vorgenommen wurden, können wir derzeit nicht gesichert sagen", teilte eine Sprecherin mit.
Zu Beginn ist auf dem Audio eine lockere Plauderei zu hören. Einer der Beteiligten erklärt, gerade in Singapur zu sein. Er schwärmt von der Aussicht vom Hotelzimmer. "Ich schicke dir vielleicht später mal ein Foto. Das ist schon mega." Aber es wird schnell ernster: Es handelt sich um ein Vorbereitungsgespräch der Offiziere für ein Briefing für Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), wohl im Februar. In der Viererrunde mit dabei ist der Chef der Luftwaffe, Inspekteur Ingo Gerhartz. Thema ist, wie die Ukraine deutsche Taurus-Marschflugkörper im Krieg gegen Russland einsetzen könnte - falls Kanzler Scholz sein Nein zu einer Lieferung der Waffen doch noch überdenken sollte.
Eine Frage ist, ob Taurus-Marschflugkörper technisch theoretisch in der Lage wären, die von Russland gebaute Brücke zur völkerrechtswidrig annektierten ukrainischen Halbinsel Krim zu zerstören. Ein weiterer Punkt ist, ob die Ukraine den Beschuss ohne Bundeswehrbeteiligung etwa bei der Zielprogrammierung bewerkstelligen könnte. Es wird diskutiert, wie lange die Ausbildung von Ukrainern an Taurus dauern könnte. In dem Mitschnitt ist aber auch zu hören, dass es auf politischer Ebene kein grünes Licht für die Lieferung der Marschflugkörper gibt.
Die ukrainische Regierung hat im Mai 2023 um die Lieferung der Marschflugkörper gebeten, um die russischen Nachschublinien auf besetztem Gebiet hinter der Front treffen zu können. Scholz entschied im Oktober, die Taurus-Raketen vorerst nicht in die Ukraine zu schicken. In den vergangenen Tagen bekräftigte er sein Nein und erklärte ausführlich seine Gründe. Im Kern geht es um das Risiko, dass Deutschland in den Krieg verwickelt werden könnte. "Deutsche Soldaten dürfen an keiner Stelle und an keinem Ort mit den Zielen, die dieses System erreicht, verknüpft sein", sagte Scholz. Teile der eigenen Ampel-Koalition, aber auch Unionspolitiker sind für eine Lieferung von Taurus und kritisieren Scholz für sein Nein.
Es geht auch um militärisch sensible Informationen. Einer der Beteiligten - wohl Luftwaffen-Inspekteur Gerhartz - erklärt, er könne sich vorstellen, dass in einer ersten Tranche 50 und dann noch einmal 50 Flugkörper geliefert würden, was aber den Krieg nicht ändern würde. Es geht um die Frage, wie viele Flugkörper für die Zerstörung der Krim-Brücke nötig wären. Ausführlich wird diskutiert, wie man eine Beteiligung der Bundeswehr bei der Versorgung der Ukrainer mit Zieldaten für Taurus verschleiern könnte. Die Gesprächsteilnehmer kommen aber zu dem Ergebnis, dass das nicht möglich sei, ohne die von Scholz formulierte rote Linie einer Kriegsbeteiligung zu überschreiten. Man müsse die Ukrainer über eine längere Ausbildung in die Lage versetzen, selber Zieldaten zu programmieren. Allerdings: Es handelt sich bei dem Ganzen nur um Gedankenspiele, um der Politik Möglichkeiten aufzuzeigen.
Brisant ist zudem die Aussage in dem Gespräch, dass die Briten im Zusammenhang mit dem Einsatz ihrer an die Ukraine gelieferten Storm-Shadow-Marschflugkörper "ein paar Leute vor Ort" hätten. Worte von Kanzler Scholz vor ein paar Tagen waren ähnlich interpretiert worden. "Was an Zielsteuerung und an Begleitung der Zielsteuerung vonseiten der Briten und Franzosen gemacht wird, kann in Deutschland nicht gemacht werden", sagte Scholz. Die Briten erklärten daraufhin, der Einsatz von Storm Shadow durch die Ukraine und der Prozess der Zielauswahl seien Sache der Ukrainer.
Das Gespräch entlarvt eine offensichtliche Sicherheitslücke. Spielt dabei eine Rolle, dass sich einer der Teilnehmer in Singapur in einem Hotel aufhielt? Nach dpa-Informationen nutzen die Teilnehmer für ihre Besprechung die Plattform Webex. Der CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter rechnet nach dem Leak mit weiteren Veröffentlichungen durch Russland. "Es werden sicher noch etliche andere Gespräche abgehört worden sein und gegebenenfalls zu späteren Zeitpunkten im Sinne Russlands geleakt werden", sagte er dem Nachrichtenportal "ZDF heute".
Russland will damit vor allem zeigen, dass Deutschland - anders als von der Bundesregierung beteuert - längst Kriegspartei sei und tief in dem Konflikt stecke. Das Gespräch belege die "Planungen von Kampfhandlungen gegen Russland, einschließlich der Zerstörung der zivilen Infrastruktur", schimpfte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa. "Wir fordern von Deutschland Erklärungen."
Öffentlich gemacht hatte den Mitschnitt Sacharowas einflussreiche Freundin Margarita Simonjan. Die Chefredakteurin des russischen Propagandakanals RT kündigte zunächst am Freitagmorgen den Mitschnitt als Sensation an, veröffentlichte dann Stunden später eine russische Textversion und schließlich die Audiodatei mit dem deutschen O-Ton im Netz. Simonjan gilt als Vertraute von Kremlchef Wladimir Putin, der selbst als Geheimdienstoffizier in der DDR arbeitete und auch zeitweilig den russischen Inlandsgeheimdienst FSB leitete.
Die Bilder von einer Explosion im Herbst 2022 auf der Krim-Brücke und neuen schweren Zerstörungen im Sommer 2023 nach einem Angriff gingen um die Welt. Die Ukraine bekannte sich zu den Attacken und erklärte immer wieder, die 19 Kilometer lange Brücke mit einem Abschnitt für Züge und einem für Autos zu zerstören, sobald es möglich sei. Die von Kiew geforderten Taurus gelten hier als entsprechend schlagkräftig. Allerdings wird in dem abgehörten Gespräch deutlich, dass ein einzelner Marschflugkörper dafür wohl nicht ausreichen würde.
Kiew begründete seine Pläne damit, dass das Bauwerk wichtig ist für die Versorgung russischer Truppen bei der Invasion im Süden der Ukraine. Allerdings versorgt Russland seine Truppen verstärkt auch über die besetzten Gebiete in der Ostukraine. Die Ukraine hatte schon vor dem Krieg die in Teilen 2018 und 2019 eröffnete Brücke als illegal und Verstoß gegen das Völkerrecht kritisiert.
Für Kremlchef Wladimir Putin ist die Brücke zwischen Russland und der 2014 annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim ein Herzensobjekt. Das Milliardenobjekt steht für eine feste wirtschaftliche Anbindung der Krim an Russland. Per Zug und Auto kommen Millionen Touristen auf die Ferieninsel. Der Güterverkehr ist auch wichtig für die Versorgung der Menschen dort. Auch deshalb spricht Russland von ziviler Infrastruktur, deren Zerstörung aus Moskauer Sicht einem Kriegsverbrechen gleichkäme. Genutzt wird die Brücke aber auch vom Moskauer Verteidigungsministerium, weshalb sie aus Kiewer Sicht ein militärisches Objekt ist, das zerstört werden kann. Russland hat bisher nach jedem Angriff auf die Krim-Brücke schwere Vergeltungsschläge gegen die Ukraine geführt. Die Atommacht drohte stets, die Krim mit allen Mitteln zu verteidigen.
Parteiübergreifend ist die Sorge groß, dass sicherheitsrelevante Kommunikationskanäle nicht genug geschützt sind. Ausschüsse im Bundestag sollen sich in der ab dem 11. März mit dem Thema beschäftigen. Dabei steht auch die Frage im Raum, ob es ein generelles Problem gibt. Die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann forderte bessere Vorkehrungen gegen Spionage. Sie sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), Spionage gehöre "zum Instrumentenkasten Russlands hybrider Kriegsführung".
Der deutsche Kontingentführer bei der Nato-Luftraumüberwachung im Baltikum, Swen Jacob, sagte der dpa: "Wir müssen gerade hier vor Ort im Baltikum, wo die Russen so nah sind, davon ausgehen, dass wir abgehört werden. Wir wissen auch, dass wir abgehört werden." Vor Ort seien die Soldaten darauf eingestellt - man habe erhöhte technische Maßnahmen getroffen, um Abhörungen zu verhindern. "Wir haben nach unserem Ermessen schon das Maximum gemacht, was wir tun können. Aber es zeigt eben auch: Der Russe hört mit."